"Blind Writing" habe ich diesen Schreib-Prozess getauft. Ich schreibe eine Szene, die Anfang, Mittelteil oder auch das Ende einer Geschichte sein könnten. Die Story selbst kenne ich nicht. Die Geschichten werden sich mit der Zeit entwickeln und miteinander verbinden.
Copyright aller Texte: Michael C. Wagner

Freitag, 2. Mai 2008

Scherezade



Mahmud Mouloud stand hinter dem Ruder der Scherezade. Der alte Fischtrawler war in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gebaut und seit dem im Besitz seiner Familie. Als ältester seiner sechs Brüder hatte Mahmud den Trawler nach dem Tode seines Vaters übernommen. Das Schiff maß dreißig Fuß und war aus massivem Holz gebaut. Mahmud hatte ihr im letzten Winter, bevor die Fischsaison wieder begonnen hatte, einen frischen Anstrich in einem feurigen Rot verpasst, den jetzt in der totalen Finsternis der Nacht, niemand bewundern konnte. Auf dem flachen Deck, vor dem kleinen Steuerhaus, stapelten sich die leeren Kisten für den heiß ersehnten Fischzug. Aus dem verrosteten Schornstein quoll ab und zu eine Wolke grauen Qualms. Die Scherezade machte gute Fahrt.

Mahmud blickte auf Borduhr und Kompass. Die kleine Glühbirne, die von der Decke des Steuerhauses funzelte, erhellte notdürftig die Instrumente. Es war kurz vor Fünf, genau die richtige Zeit, die Netze aus zu werfen. Mahmud stoppte die Maschine und ging nach vorn auf das Deck, um den schweren, verrosteten Anker über Bord zu werfen. Geräuschvoll versank er in der dunklen Tiefe.

Zurück im Steuerstand, holte Mahmud Tabak und ein Papierblättchen aus der Tasche und drehte eine Zigarette. Er schraubte die alte verbeulte Thermokanne auf und füllte den Becher mit dampfendem Pfefferminztee. Eine Weile saß er regungslos da und rauchte und nippte ab und zu an dem heißen Getränk.

Als die Borduhr die volle Stunde zeigte, verstaute Mahmud sorgfältig Thermokanne und Tabaksbeutel und machte sich daran, die Netze aus zu werfen.

Aus dem Dunkel der Nacht stieß eine Möwe herab und setzte sich auf das Deck. Sie musste von Point Noir gekommen sein.

Keine Kommentare: