"Blind Writing" habe ich diesen Schreib-Prozess getauft. Ich schreibe eine Szene, die Anfang, Mittelteil oder auch das Ende einer Geschichte sein könnten. Die Story selbst kenne ich nicht. Die Geschichten werden sich mit der Zeit entwickeln und miteinander verbinden.
Copyright aller Texte: Michael C. Wagner

Dienstag, 20. Mai 2008

Nachrichten an Hamburg

Kapitän Haigis wandte sich an die beiden ratlosen Seeleute auf der Brücke: „Ankern lassen! Ohne Navigation bewegen wir uns keine Meile weiter! Ich werde Hamburg Bericht erstatten.“ Er verließ die Brücke und als er den Niedergang zum Funkraum erreichte, erstarben die Schiffdiesel der MS Doria. Haigis öffnete die Tür zur Funkkabine und griff zum Brückentelefon: „Maschine! Was ist los?“ Der erste Ingenieur meldete sich sofort. “Maschinen ausgefallen, versuche Hilfsdiesel!“ Nichts passierte, nur eine unheimliche Stille lag weiter über dem Schiff. Haigis ging zum Stahlschrank in der Funkkabine, öffnete ihn und entnahm das Satellitentelefon der Reederei. Er wählte die Verbindung nach Hamburg. Das Gerät zeigte den korrekten Verbindungsaufbau, dann erloschen die Zahlen auf dem Display wie von Geisterhand. Die krächzende Stimme des Ingenieurs kam über den Kabinenlautsprecher: „Hilfsdiesel negativ, keine Reaktion!“ „Woran liegst`s, zum Teufel noch mal,“ brüllte Haigis gereizt. Er öffnete den Laptop und startete den Computer. „Ich kann im Moment keine Ursache sehen, Kaptain,“ war da wieder die Stimme des Ingenieurs, „ich arbeite dran..“

Haigis begann hastig eine Nachricht an die Reederei zu schreiben. Seine Hände zitterten ein wenig und er musste ständig kleine Tippfehler korrigieren. Von Achtern hörte er das schwere Rasseln, als die Anker zu Wasser gelassen wurden. Wenig später spürte er den harten Ruck, als sich die Ketten strafften.

Haigis drückte auf Senden und wechselte in den Ordner gesendete Nachrichten. Offensichtlich war die mail auf die Reise gegangen. Er atmete erleichtert aus und suchte in seinen Taschen nach der ersten Zigarette an diesem Morgen.

Haigis blickte zur Uhr, es war zwanzig nach Fünf. Von Draußen kam die gleißende Helligkeit durch das Bullauge der Kabine und malte einen weißen Fleck auf den abgenutzten Linoleumboden. Es klopfte an der Tür. Der Smutje betrat die Kabine und balancierte ein Tablett mit einer Tasse dampfenden Kaffees. Auf seiner Stirn klebte ein großes Pflaster. „Vielleicht der letzte heiße Kaffee heute, Kaptain, wir haben keinen Strom mehr.“ Haigis nickte und nahm den Kaffee von dem Tablett. Eine Weile saß er still da, schlürfte den Kaffee, entzündete die Zigarette und rauchte in tiefen Zügen.

Aus dem Bordlautsprecher klang wieder die krächzende Stimme von Carlos Medozza, dem ersten Ingenieur: „Ich komme mal nach oben, Kaptain…“

Carlos Mendozza war ein kleiner stämmiger Spanier mit einem fröhlichen Gesicht. Seine schwarzen Haare waren von silbernen Fäden durchzogen und hinter dem Kopf zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er setzte sich unaufgefordert und sah Kapitän Haigis besorgt an: „Wir haben null Power. Die Hilfsdiesel springen nicht an, darum gibt es auch keinen Strom. Die ganze Elektronik ist im Eimer, sämtliche Programme sind gelöscht! „Wie bei dem Radar und der Navigation,“ murmelte Haigis und sah auf den Boden und fixierte die Lichtreflexe. Mendozza hob besorgt eine Augenbraue. Die beiden Männer schwiegen einen Moment. Haigis hob den Blick und sah auf die batteriebetriebene Uhr über der Funkanlage: Es war jetzt halb Sechs. Er atmete hörbar aus und erhob sich: „Lassen Sie uns zur Brücke gehen und mit Vellmann sprechen, wie wir weiter vorgehen.“ Die beiden Männer verließen die Funkkabine.

Als sie die Brücke betraten, brach plötzlich die Nacht herein.

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