"Blind Writing" habe ich diesen Schreib-Prozess getauft. Ich schreibe eine Szene, die Anfang, Mittelteil oder auch das Ende einer Geschichte sein könnten. Die Story selbst kenne ich nicht. Die Geschichten werden sich mit der Zeit entwickeln und miteinander verbinden.
Copyright aller Texte: Michael C. Wagner

Freitag, 9. Mai 2008

Der Glencheck (1998)

Schwüle Luft steht bewegungslos über der Stadt.
Die Halstestelle liegt auf einer Verkehrsinsel an der Fahrspuren in langen Reihen vorbeiführen, um sich dann im Gewirr der Häuserschluchten zu verlieren. Das Rauschen des stetig fließenden Verkehrs ist das einzig beherrschende Geräusch. Durch den verhangenen Himmel taucht die Nachmittagsonne die Umgebung in ein schattenloses milchiges Licht. Hier gibt es kein Entkommen.
Der Bürotag war anstrengend gewesen, anstrengender als sonst. Der junge Mann hatte sich über seinen Vorgesetzten geärgert. Diesmal hatte er es auch zugelassen und offen gezeigt. Die Irritation des anderen hatte ein angenehmes Gefühl bei ihm hinterlassen. Die anfängliche Wut war später in einen mäßigen, aber immer noch spürbaren Groll übergegangen. Jetzt, gegen Büroschluss, fühlte er nur noch das satte Gefühl und strebte mit vielen Menschen durch die Straßen Richtung Bahn und Bus. Er dachte kurz an Tschernobyl und die Gefahr radioaktiver Strahlung. Die Zeitungen waren noch voll davon. Als einige wenige Tropfen vom Himmel fielen, überkam ihn ein Gefühl der Bedrohung, dass er sofort wieder verdrängte.
An der Haltestelle wartet der Glencheck.
Seitlich im Halbprofil betrachtet, vermittelt er den Eindruck einer ganz alltäglichen Person, wenn man das ungepflegte lange Haupthaar außer Acht lässt. Bei genauerem Hinsehen jedoch erkennt man die vielen Flecken auf seinem abgetragenen Mantel aus grauem Glenscheckstoff. Wenn der Mann sich dreht und sein bärtiges Gesicht zeigt, sieht man die kleinen dunklen Augen, die mit unstetem Blick die Umgebung fixieren. Ihr Ausdruck ist verschlagen und es liegt eine Spur Häme darin. Auch seine Statur wirkt bei genauerer Betrachtung bedrohlich, massig der Körper; die Breite seiner Handgelenke verrät enorme Kraft. Die großen Hände mit den rohen behaarten Handrücken sind die eines Schlägers.
Die Erscheinung des Bärtigen ist dem jungen Mann unangenehm. Vorsichtshalber lässt er einen größeren Abstand zwischen dem Fremden und sich. Sie warten auf den Bus.
Der Glencheck fährt mit dem Finger unter seinen Kragen, als wolle er sich Luft verschaffen. Der junge Mann bemerkt trotz der Distanz die Ausdünstungen des Bärtigen. Die schwüle Luft mischt sich mit einer Woge aus Schweiß, Alkohohl und Gewürzen. Er dreht sich weg und studiert den Fahrplan. Bis zum Eintreffen des Busses wird noch einige Zeit vergehen. Um sie zu überbrücken, zündet sich der Junge eine Zigarette an.
Klick – Klapp! Klick – Klapp! Der junge Mann sieht sich um. Der Glenscheck hat ein Feuerzeug aus der Tasche gezogen. Klick – Klapp! Das Klicken und Klappen des Feuerzeuges scheint einem genau festgelegten Rhythmus zu folgen, dem der junge Mann einen Moment fasziniert folgt.
Im selben Augenblick bewegt sich Glencheck und verkürzt die Distanz zwischen ihnen. Er fixiert den Jüngeren. “Haste mal ne` Zigarette?“ Die Stimme klingt rau und fremd, Tonlage und Lautstärke sind so gewählt, dass der Junge sie nicht ignorieren kann. Ein Gefühl von Unmut übermannt ihn und er reagiert anders als sonst. „Könntest ruhig mal bitte sagen!“ Er reicht dem Bärtigen achtlos die Packung, behält sie aber in den Fingern. Der Glencheck nestelt provozierend langsam eine Zigarette aus dem Päckchen und betrachtet sie ausgiebig mit zusammen gekniffenen Augen, bevor er sie in den Mund steckt.
Klick! Über die Flamme seines Feuerzeuges fixiert er den Jüngeren mit seinem Blick. Er nimmt einen tiefen Zug. Klack! Den jungen Mann beschleicht ein mulmiges Gefühl. Hatte er zu scharf reagiert? Es war sonst nicht seine Art. Der Glencheck betrachtet die Glut an der Spitze der Zigarette. „ Du hast mir die Zigarette nicht gern gegeben!“ brummt er, leiser als zuvor, und fixiert sein Gegenüber. Die rohe Hand, welche die Zigarette hält, bewegt sich im Zeitlupentempo abwärts. Sein Blick, auf den Jungen gerichtet, wird dunkler und böser. „ Ich musste dich darum bitten!“ Der Tonfall verstärkt das ungute Gefühl des Jungen.

- wird fortgesetzt -

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